Armut in der Schweiz steigt seit 2014 konstant an. Rund 675'000 Personen waren 2017 in der Schweiz von Armut betroffen, unter ihnen befinden sich über 100'000 Kinder. Das entspricht einem Anstieg innerhalb eines Jahres um fast 10 Prozent. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als die Arbeitslosigkeit 2018 mit 2,6 Prozent so tief lag wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Im Vergleich zur Arbeitslosenquote schliesst die Erwerbslosenquote auch stellenlose Personen mit ein, die nicht bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungsbüro (RAV) gemeldet sind. Diese lag stabil bei 4,7 Prozent. Trotzdem wurden 2018 immer noch über 35'000 Personen ausgesteuert. Damit haben sich die Aussteuerungen auf hohem Niveau stabilisiert, wie der jährliche Bericht über die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz im Sozialalmanach 2020 der Caritas Schweiz aufzeigt.
Nicht alle profitieren von der guten Wirtschaftslage
Dass nicht alle Menschen von der guten Wirtschaftslage profitieren, zeigt auch die Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse, die eine Existenzsicherung aus eigener Kraft erschweren. Einkommensschwache Personen müssen immer öfter mehrere Stellen besetzen, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Zudem hat die Zahl der Personen, die unfreiwillig in reduzierten Pensen arbeiten, in den letzten Jahren zugenommen. 2018 hätten 360'000 Personen in der Schweiz gerne mehr gearbeitet, fanden aber keine passende Stelle in höherem Pensum.
Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Auch übers Ganze gesehen arbeiten Frauen dreimal öfter in einem Teilzeitpensum als Männer. Die Folgen sind fatal: Gesamthaft fällt die Altersrente der Frauen um 37 Prozent tiefer aus, als diejenige der Männer. Noch immer wird Care-Arbeit im System der sozialen Sicherheit ungenügend berücksichtigt. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass Frauen im Alter ein doppelt so hohes Armutsrisiko aufweisen wie Männer.
Hohe Belastung durch Krankenkassenprämien
Überaus hoch belasten die Krankenkassenprämien die Haushalte. Dies widerspiegelt sich auch im jährlichen Sorgenbarometer der Credit Suisse. Das Thema Gesundheit und Krankenkasse liegt auf dem zweiten Platz. Während sich die Krankenkassenprämien in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt haben, sind die Reallöhne im gleichen Zeitraum nur gerade um 14 Prozent angestiegen.
In den meisten Kantonen müssen die Versicherten im Durchschnitt zwischen 15 und 18 Prozent ihres Einkommens für die Prämien ausgeben. Die Prämienbelastung übersteigt damit das ursprünglich vom Bundesrat festgelegte Mass von acht Prozent. Je nach Haushaltmodell fällt die Belastung sogar noch höher aus. Das ist eine Folge davon, dass zahlreiche Kantone die Prämienverbilligungen gekürzt haben, um den Staatshaushalt zu entlasten.
In 17 Kantonen sind die ausbezahlten ordentlichen Prämienverbilligungen zwischen 2011 und 2017 gesunken, in Luzern wurden sie beinahe halbiert. Hinzu kommt: Anstatt die Bundesgelder aus dem Prämienverbilligungstopf für Haushalte mit kleinem Einkommen einzusetzen und so den unteren Mittelstand zu entlasten, bezahlen die Kantone damit zunehmend die Prämien von Sozialhilfebeziehenden, anstatt diese aus Kantonsgeldern zu berappen.
Das Sozialhilferisiko verschiebt sich
Grund zur Sorge bieten auch neuste Erkenntnisse des Kennzahlenberichts der Städteinitiative zur Sozialhilfe: Ab 46 Jahren nimmt das Risiko, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, stark zu. In den vierzehn untersuchten Städten ist das Risiko für ältere Personen in den letzten Jahren am stärksten angestiegen. Durchschnittlich bezieht eine Person heute fast vier Jahre Sozialhilfe, das sind zehn Monate mehr als noch vor zehn Jahren. Nebst dem Alter ist auch die Bildung massgebend. Über die Hälfte der erwachsenen Sozialhilfebeziehenden verfügt über keinen Bildungsabschluss.
Mit dem Schwerpunktthema «Eine Sozialhilfe für die Zukunft» nimmt sich Caritas im Sozialalmanach 2020 der Frage an, wie die Sozialhilfe im System der sozialen Sicherheit besser verankert werden kann. Der Reformbedarf ist unbestritten - nur schon aufgrund der föderalistischen Ausgestaltung und der fehlenden Verbindlichkeit, aber auch, weil die Sozialhilfe mittlerweile weit mehr ist als das oft zitierte letzte Auffangnetz: Die Sozialhilfe muss heute soziale Risiken abfedern, die durch keine Sozialversicherung abgedeckt sind. Diverse Reformvorschläge werden im Buch von namhaften Expertinnen und Experten reflektiert.