Caritas Schweiz fordert nationale Strategie gegen Kinderarmut
16.11.2017 | 10:42
76'000 Kinder leben hierzulande in Armut, weitere 188'000 in prekären Lebensverhältnissen. Familienergänzungsleistungen, Frühe Förderung sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind die Schlüssel zur Reduktion der Kinderarmut. Diese Instrumente sind in verschiedenen Kantonen erfolgreich...
Es braucht nun den politischen Willen, sie endlich schweizweit umzusetzen. Ende 2018 läuft das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut aus - höchste Zeit die Armutspolitik endgültig auf Bundesebene zu verankern, meint Caritas Schweiz.
Kinderarmut hat in jüngster Zeit verstärkt an Beachtung gewonnen. So hat das Bundesamt für Statistik Zahlen zum quantitativen Ausmass der Kinderarmut publiziert, und unlängst ist ein neu-er Familienbericht des Bundes erschienen. Aus unterschiedlichen Perspektiven gelangen alle Analysen zum gleichen Fazit: Kinderarmut ist in der Schweiz eine gesellschaftliche Tatsache - und dies seit längerer Zeit. Bereits Ende der 1990er Jahre waren die von Armut betroffenen Menschen mehrheitlich Mütter, Väter und Kinder. Daran hat sich wenig geändert.
Massnahmen gegen Kinderarmut
Zugleich gibt es erprobte Massnahmen gegen Kinderarmut. In der Existenzsicherung, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Frühen Förderung gibt es heute Bespiele gelingender Praxis. So haben vier Kantone bereits Familienergänzungsleistungen eingeführt. Diese entsprechen im Grundprinzip den Ergänzungsleistungen zur AHV / IV.
Das heisst: sie ergänzen das Einkommen armutsbetroffener Familien auf das Existenzminimum, sind aber mit zusätzlichen Erwerbsanreizen ausgestattet. Besonders erfolgreich sind die Familienergänzungsleistungen in den Kantonen Tessin und Waadt. Dort sinkt der Anteil der Familien in der Sozialhilfe, und das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen geht nachweislich zurück.
Im Kanton Tessin hat sich ausserdem mit dem freiwilligen Kindergarten ab drei Jahren eine alternative Massnahme der Kleinkinderbetreuung bewährt, welche die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Ausbildung auch für armutsbetroffene Familien ermöglicht. Das Angebot existiert seit den 1930er Jahren und wird heute von über 90 Prozent der Kinder in Anspruch genommen. Eltern nutzen die Zeit für Erwerbstätigkeit. Der freiwillige Kindergarten ist kostenlos, entlastet damit das Familienbudget und wirkt der Armut entgegen.
Drei Instrumente zur Bekämpfung der Kinderarmut
Im Blick auf die frühe Förderung existieren mittlerweile zahlreiche Studien, die den Nutzen insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien betonen. Dank Früher Förderung haben Kinder später bessere Schulleistungen und höhere Bildungsabschlüsse. Als Schlüsselfaktoren für gute Frühe Förderung gelten genügend und qualifiziertes Personal, gute Arbeitsbedingungen, Einrichtungs und Bildungsqualität der Angebote sowie der Einbezug der Eltern.
Auf Grund dieser in der Praxis erprobten Massnahmen stehen drei Instrumente zur Bekämpfung der Kinderarmut zur Verfügung: Es braucht die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien auf gesamtschweizerischer Ebene. Notwendig sind sodann Massnahmen, die das Miteinander von Erwerbs- und Familienarbeit ermöglichen. Dazu gibt es eine wegweisende Lösung aus dem Kanton Tessin. Schliesslich ist die Frühe Förderung zentral: Kindergarten und Schule ab dem vierten Lebensjahr sind nicht in der Lage, die ungleichen Startchancen für Kinder wettzumachen. Auch die Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) hat den Handlungsbedarf erkannt.
Das Armutsprogramm des Bundes ist beschränkt bis Ende 2018. Der Bund muss jedoch sein Engagement fortsetzen. Denn alle Zahlen und Untersuchungen zur Armut in der Schweiz weisen darauf hin, dass Armut die grösste soziale Herausforderung der kommenden Jahrzehnte bleiben wird. Das Engagement des Bundes in der Armutspolitik darf deshalb mit dem Auslaufen des nationalen Armutsprogramms nicht zu Ende gehen.
Strategie auf Bundesebene formulieren
Bereits vor einem Jahr, an der Nationalen Konferenz gegen Armut vom 22. November 2016, haben zudem Bund, Kantone, Städte und Gemeinden eine gemeinsame Erklärung abgegeben, wonach die "im Rahmen des Nationalen Programms gegen Armut angestossenen, zielführenden Massnahmen zur Armutsprävention sowie der Wissensaustausch zwischen den verschiedenen Akteuren [...] weitergeführt werden" sollen.
Der Bundesrat muss diese Erklärung jetzt zu konkretisieren. Unter anderem ist entscheidend, dass der Bund gemeinsam mit den Kantonen, Gemeinden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Armutsbetroffenen eine Schweizerische Strategie zur Armutsbekämpfung und Armuts- prävention entwickelt. Dazu gehören messbare Ziele, wirksame Massnahmen und deren regelmässige Überprüfung.
Artikelfoto: obs/Caritas Schweiz