Er zieht jedes Jahr Tausende von Touristinnen und Touristen aus aller Welt in seinen Bann: Der Grosse Aletschgletscher ist als grösster Eisstrom der Alpen neben dem Matterhorn der wichtigste Tourismusmagnet im Oberwallis. Und er trägt mit seinem Schmelzwasser im Sommer massgeblich dazu bei, dass das trockene Rhonetal mit genügend Wasser versorgt wird.
Doch das zunehmend warme Klima setzt dem mächtigen Gletscher genauso zu wie dem Matterhorn, das immer mehr zu bröckeln beginnt. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zunge des Aletschgletschers um rund einen Kilometer zurückgezogen. Und es ist absehbar, dass sich dieser Trend auch in den kommenden Jahren weiter fortsetzen wird. Doch wie wird es um den Grossen Aletschgletscher am Ende des Jahrhunderts bestellt sein? Was wird dannzumal von ihm noch zu sehen sein, wenn man beispielsweise auf dem Eggishorn bei Fiesch oder dem Jungfraujoch steht?
Entwicklung des Aletschgletschers bis 2100: Simulation für drei Klimaszenarien (Video: ETH Zürich)Präzises Gletschermodell
Wenn es schlecht läuft, nicht mehr viel. Zu diesem Schluss kommen Guillaume Jouvet und Matthias Huss aus der Gruppe von Martin Funk von der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich. Die beiden Forscher haben in einer detaillierten Simulation untersucht, wie sich der Aletschgletscher in den kommenden Jahren verändern wird. Dazu haben sie ein dreidimensionales Gletschermodell verwendet, mit dem sich die Dynamik eines einzelnen Gletschers detailliert abbilden lässt.
"Die Eisbewegungen beim Aletschgletscher sind besonders komplex, weil von oben drei mächtige Eisströme kommen, die sich auf dem Konkordiaplatz vereinigen und von da aus gemeinsam weiter ins Tal vorstossen", erklärt Huss.
Eine vergleichbare Simulation haben Jouvet, der damals noch an der EPFL arbeitete, und Huss bereits vor 10 Jahren durchgeführt. Nun haben sie die Zukunft des Aletschgletschers nochmals abgeschätzt anhand der neuen regionalen Klimaszenarien für die Schweiz, die im letzten Herbst vorgestellt wurden (CH2018). Dabei haben sich die beiden Forscher auf drei Szenarien konzentriert, die von unterschiedlich starken Veränderungen der CO2-Konzentration in der Atmosphäre ausgehen und damit auch von einer unterschiedlich starken Erwärmung des Klimas.
Der beste Fall: 50 Prozent Verlust
Der günstigste Fall für den Gletschertourismus im Wallis wäre, wenn die globale Erwärmung so wie im Klimaabkommen von Paris vorgesehen unter 2 Grad Celsius gehalten werden könnte. Dies setzt allerdings voraus, dass die Treibhausgasemissionen weltweit in naher Zeit massiv gesenkt werden, so dass das Klima ab ca. 2040 stabilisiert werden kann.
"Selbst in diesem Fall muss damit gerechnet werden, dass sich der Rückgang des Aletschgletschers bis Ende Jahrhundert fortsetzen wird", hält Jouvet fest. "Sowohl beim Eisvolumen als auch bei der Länge müsste in diesem Fall mit einer Abnahme von mehr als 50 Prozent im Vergleich zu heute gerechnet werden." Dass der Gletscher selbst bei einer baldigen Stabilisierung des Klimas sich weiter zurückziehen wird, hängt damit zusammen, dass grosse Gletscher sehr träge sind und erst mit einer gewissen Verzögerung auf Klimaveränderungen reagieren.
Sicht von Eggishorn - Markanter Rückgang der Eiszunge (Video: Guillaume Jouvet / ETH Zürich)Gletscher ist nicht im Gleichgewicht
Wesentlich dramatischer sieht die Situation aus, wenn sich die Weltgemeinschaft nicht zügig durchringen wird, effektive Massnahmen gegen die Klimaerwärmung zu ergreifen. Geht man von einem ungünstigen, aber leider durchaus realistischen Szenario aus, bei dem sich das Klima in der Schweiz bis Ende Jahrhundert um vier bis acht Grad im Vergleich zur Referenzperiode 1960-1990 erwärmen wird, werden vom ehemals grössten Alpengletscher im Jahr 2100 nur noch ein paar mickrige Eisfelder übrigbleiben. "Auch der Konkordiaplatz direkt unter dem Jungfraujoch, auf dem sich das Eis heute noch rund 800 Meter hoch türmt, wird dann völlig eisfrei sein", ergänzt Jouvet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch zu sehen, wie stark bereits die bisherige Erwärmung dem Gletscher zusetzt: Auch in einem theoretischen Szenario, in dem das Klima künftig genau gleich bleiben würde wie in den letzten 30 Jahren, würde das Eisvolumen bis Ende Jahrhundert um mehr als einen Drittel abnehmen. Bliebe das Klima so wie in den letzten 10 Jahren, ginge sogar die Hälfte des Eises verloren. "Diese Zahlen bestätigen, dass der Gletscher heute überhaupt nicht mehr im Gleichgewicht mit dem Klima ist", erklärt Huss.